Wir sind erwachsen. Wir sind selbstständig. Wir haben die besten Voraussetzungen, um ein Leben nach eigener Wahl zu leben. Oder doch nicht? Der Tod der Eltern oder eines Elternteiles kann auch beruflich auf ganz neue Wege führen.
Wie die Eltern die Selbstständigkeit beeinflussen
Ein Phänomen, das mich ich in meiner nun fast 20-jährigen Coaching- und Beratungspraxis immer wieder verblüfft hat, ist der Einfluss, den unsere Eltern aufs Business haben. Zum Beispiel
- indem wir Ziele verfolgen, die nicht die eigenen sind
- indem wir immer noch die Anerkennung der Eltern suchen und dafür zu mancherlei Verbiegungen, Verrenkungen und Kompromissen bereit sind
- indem wir Dinge nicht tun aus Angst, die Zugehörigkeit zu verlieren.
Was geschieht, wenn die Eltern sterben?
Wie beeinflusst der Tod unserer Eltern unser Business?
Meine Mutter starb im Frühjahr dieses Jahres, nachdem mein Vater bereits einige Jahre zuvor gegangen war. Schon während ihrer langen Krankheit und noch mehr nach ihrem Tod hat sich bei mir vieles umgekrempelt und der Prozess ist noch nicht abgeschlossen.
Hängen diese Veränderungen mit dem Tod meiner Mutter zusammen?
Vielleicht nicht.
Und vielleicht doch.
Der entscheidende Wendepunkt
Für letzteres spricht das, was Victoria Secunda, Autorin von Losing Your Parents, Finding Your Self herausgefunden hat.
Durch schriftliche Fragebögen und intensive Interviews erfuhr sie, welche Erfahrungen insgesamt 110 Menschen nach dem Tod ihrer Eltern machten. Darüber hinaus wertete sie unzählige Quellen von allen möglichen Experten rund um diese Thematik aus.
Ihre eindeutige Schlussfolgerung:
Der Tod der Eltern ist das einschneidendste Erlebnis im Leben eines Erwachsenen, der entscheidende Wendepunkt.
Veränderungen jeglicher Art, auch beruflich
Der Tod der Eltern kann sich auf alle Lebensbereiche auswirken. Die Interviewpartner von Victoria Secunda berichteten neben aller Trauer und ähnlichen Gefühlen auch von
- Erleichterung und Freiheit, das Leben nunmehr nach eigenen Vorstellungen zu gestalten
- Veränderungen in den Beziehungen zu anderen Familienmitgliedern
- Veränderungen in sonstigen Beziehungen, zum Beispiel in der eigenen Partnerschaft oder Familie
- beruflicher Neuausrichtung.
Berufliche Neuausrichtung: Career Redirection, Career Rejuvenation, Career Confusion
Ungefähr die Hälfte der Teilnehmer hat berufliche Veränderungen vollzogen. Besonders interessant: 69 % von ihnen führten diese direkt auf den Tod der Eltern zurück.
Die Art der beruflichen Neuausrichtung kann sehr unterschiedlich sein. Victoria Secunda unterteilt in:
- Career Redirection: neue Wege gehen
- Career Rejuvenation: im Rahmen des Bestehenden sich neu entfalten
- Career Confusion: nicht zu wissen, wie es weiter gehen soll.
Neue Wege gehen (Career Redirection)
Neue Wege zu gehen (Career Redirection) kann im Einzelfall sehr unterschiedlich aussehen:
- eigene Träume zu verwirklichen, statt das zu tun, was sich die Eltern für einen gewünscht hatten
- zu voller Leistung aufzulaufen, vielleicht erstmals im Leben, und überdurchschnittlich erfolgreich zu werden.
- kreativen Ausdruck zu finden und die eigene Botschaft in die Welt zu bringen
- der Arbeit weniger Gewicht im Leben zu geben.
Sich im Rahmen des Bestehenden neu entfalten (Career Rejuvenation)
Berufliche Veränderung muss nicht immer äußere Veränderung bedeuten. Oftmals ist es eher eine innere Veränderung.
Eine Veränderung, die damit einhergeht, sich von Erwartungen und Zuschreibungen der Eltern zu lösen.
Die mit einem neuen Grad an „Ownership“ für den eigenen Erfolg oder Misserfolg verbunden ist, also mit mehr Eigenverantwortung und der Bereitschaft, diese auch zu übernehmen. Das kann sich zum Beispiel äußern darin, neue Verantwortung für die finanzielle Zukunft zu übernehmen.
Orientierungslosigkeit (Career Confusion)
Career Confusion kann besonders dann eintreten, wenn sich jemand auch im Erwachsenenalter emotional noch nicht vom Elternhaus gelöst hat.
Ein möglicher Fall ist der, dass jemand sein ganzes Berufsleben darauf aufbaut, den Eltern etwas zu beweisen. Wenn die Eltern nicht mehr da sind, wird das hinfällig.
Orientierungslosigkeit ist auch möglich, wenn jemand die kranken Eltern längere Zeit gepflegt hat und die eigenen Wünsche und Bedürfnisse dabei sehr zurückgestellt hat.
Bewusstsein der eigenen Endlichkeit
Neben all diesen Veränderungen ist der Tod der Eltern oft mit einem neuen Bewusstsein der eigenen Endlichkeit verbunden.
Das kann dazu führen, bewusster mit seiner Zeit umzugehen. Mehr noch darüber nachzudenken, welche Spuren man hinterlassen will.
Ich erlebe das auch oft in Gesprächen um ein verkaufsfähiges Business. Dieses Thema hat viele Facetten: Neben den finanziellen Aspekten spielt auch für viele eine Rolle, Spuren hinterlassen zu wollen. Das, was man selbst an Erfahrungen gesammelt und was man selbst aufgebaut hat, weiter geben zu wollen.
Abnabelung von den Eltern zu Ende bringen
Die äußere Trennung von den Eltern kann dazu führen, mehr und mehr die Abnabelung von den Eltern zu vollziehen, die zu Lebzeiten noch nicht möglich ist. Victoria Secunda drückt das in diesem Zitat (S. 281) sehr schön aus (zunächst im Original, dann sinngemäß umschrieben):
„They (ihre Eltern, Anm. von mir) had to die for me to see who they were, apart from me, and who I am, apart from them. They had to die for me to fully understand that while I am of them, I am not them.“
„Erst nach dem Tod meiner Eltern konnte ich sehen, wer sie waren und wer ich bin, sie eigenständig wahrzunehmen in Bezug auf mich und mich eigenständig in Bezug auf sie. Erst nach ihrem Tod habe ich voll und ganz verstanden, dass ich zwar von ihnen abstamme, aber dass ich nicht sie bin.“
Und damit erwächst die Chance – und auch aus meiner Sicht die Aufgabe – das eigene Leben voll und ganz zu leben.
Für eigene Verarbeitung und für Coaches und Berater
Dieses Buch hat mir sehr geholfen, mir die volle Tragweite davon bewusst zu machen, dass ich nun eine „erwachsene Waise“ bin, wie Victoria Secunda es ausdrückt („adult orphan“). Ich finde es auch immer hilfreich, eigene Erfahrungen in einem größeren Kontext zu sehen und zu erleben, dass andere ähnliche Erfahrungen machen.
Dieses Buch ist auch wichtig für meine Coaching- und Beratungspraxis. Ich empfehle es allen, die nicht nur das eigene Erleben, sondern auch das ihrer Klienten noch besser verstehen wollen.
Mein Beitrag zur November-Aktion im Totenhemd-Blog
Ein großes „Danke“ an Petra Schuseil und Annegret Zander, die mit ihrer November-Aktion im Totenhemd-Blog den Raum geöffnet haben für sehr individuelle und vielfältige Beiträge rund um Tod und Sterben unter dem Motto „Was ist deine heimlichste Frage zum Sterben und zum Tod?“
Meine Frage „Wie beeinflusst der Tod unserer Eltern unsere berufliche Entwicklung?“ haben Sie hier kennen gelernt und auch, wo ich Antworten gesucht und gefunden habe. Vielleicht regt dieser Beitrag Sie an, für sich selbst die Frage überhaupt erst einmal zu stellen. Vielleicht regt er Sie an, neue Antworten zu finden.
Mit Victoria Secunda bin ich einig, dass dieses Ereignis ein Wendepunkt im Leben ist und vielleicht in der Tat der wichtigste.
Hier ist der Link zum Buch:
Victoria Secunda: Losing Your Parents, Finding Your Self
Buchcover: Hachette
Der Beitrag erschien ursprünglich auf meiner Seite www.MonikaBirknerFreedomBusiness.de. Update & Neu-Veröffentlichung am 28.09.2023